Wie bewältige ich das Alter?

 

Ein altes bulgarisches Märchen, das mit einem gewissen Humor die einzelnen Lebensalter charakterisiert, erzählt:

 

„Als der liebe Gott die Welt erschaffen hat, teilte er allen Lebewesen ihre Lebensalter zu. Jeder bekam zunächst 30 Jahre zugemessen, nur der Mensch war unzufrieden damit, es war ihm viel zu wenig. „Wir werden sehen”, sagte der liebe Gott.

 

Der Ochse bekam den Auftrag, sich 30 Jahre für den Menschen nach besten Kräften zu schinden, das Feld zu bestellen und das Joch zu tragen. „10 Jahre sind der Plage genug”, meinte der Ochse. „Gut, dann kann der Mensch von dir die restlichen 20 Jahre bekommen”, sprach Gott.

 

Dem Hund gab Gott ebenfalls 30 Jahre, damit er den Menschen, seine Herde und seinen Besitz bewachen und behüten und vor Dieben bewahren solle. „Kein schönes Geschäft, 10 Jahre würden mir dazu genügen”, sagte der Hund. „Gut, dann trete auch du 20 Jahre an den Menschen ab”, sagte Gott.

 

Zuletzt kam der Affe. „Du sollst ebenfalls 30 Jahre lang die Menschen unterhalten, Possen reißen, dass sie über dich lachen. Es wird dich keiner ernst nehmen.” „Herr, nach 10 Jahren habe ich ein solches Leben satt”, entgegnete der Affe. „Gut, dann kann der Mensch auch von dir noch 20 Lebensjahre dazu bekommen”, entschied Gott.

Und so kam es, dass der Mensch die ersten 30 Jahre von Gott erhielt, um als Mensch zu leben, die nächsten 20 Jahre muss er sich plagen und abrackern wie ein Ochse, die weiteren Jahre zwischen 50 und 70 sucht er das Erreichte zu bewahren und zu verteidigen wie ein Hund, und die letzten Jahre, ab 70, die sind vom Affen. Aber das hat er jetzt davon, dass er manchmal nicht mehr ernst genommen wird, dass man über ihn lacht und ihn verspottet.”

 

Märchen sind natürlich frei erfunden, aber doch nicht so ganz aus der Luft gegriffen. Vielleicht ist der Vergleich mit dem Affen etwas zu stark aufgetragen und übertrieben. Aber das Alter ist nun einmal die Lebensphase, wo der Mensch geplagt ist von allen möglichen Altersbeschwerden und Krankheiten, wo er sich manchmal tatsächlich nicht ernst genommen oder gar abgeschoben fühlt und sich überflüssig vorkommt.

 

Doch es ist eine teuflische Irrlehre unserer Zeit, wenn die Illustrierten ihren Lesern aufschwätzen wollen, dass das Glück des Lebens mit dem Älterwerden endet. Kein Wunder, wenn das Alter für viele zum Schreckgespenst wird.

 

Eine junge Friseuse in der Berufsschule sagte einmal: „Altwerden ist das Schlimmste, was ich mir vorstellen kann. Am liebsten würde ich mit 40 Jahren sterben. Nachher hat man doch nichts mehr vom Leben.”

 

Hüten wir uns vor einer solchen Lebenshaltung, sie entspricht nicht der Lebenswürde, in dem jede Altersstufe ihren eigenen Wert besitzt und einen tiefen Sinn hat.

 

Doch wie bewältige ich das Alter?

 

Die Bürde des Alters

 

Vergessen wir eines nicht: Älterwerden heißt „reifer” werden. Im Frühling ist es ein herrlicher Anblick, wenn die Bäume in voller Blüte stehen. Jeder erfreut sich an diesem Anblick. Sicher sind die blühenden Bäume schön, aber wertvoll werden sie erst im Herbst, wenn die Früchte reifen. Der eigentliche Sinn einer Apfelblüte ist erst der Apfel, und der reift erst im Herbst.

 

Freilich hat auch so ein goldener Oktober seinen eigenen Reiz. Die Zeit der Gewitter ist meistens vorbei, in den Bergen herrscht die klare Weitsicht, das Wetter ist beständiger, oft sonnig und klar, ruhig und friedvoll. Doch zum Herbst gehört auch der nasskalte November, wo die Schönheit der Natur mehr und mehr in den Hintergrund tritt. So ist es auch im Menschenleben.

 

Die Bürde des Alters besteht für die meisten in einer gewissen Gebrechlichkeit des Leibes: die Sinne sind nicht mehr so scharf, die Glieder und Muskeln nicht mehr so kräftig und beweglich, die Organe funktionieren nicht mehr alle so gut, das Gedächtnis lässt merklich nach. Manche Krankheiten werden zum täglichen und auch nächtlichen Begleiter. Auf viele Tätigkeiten, die einem lieb und teuer waren, muss man endgültig verzichten. Die Welt, die sich heute im ständigen Wandel befindet, verliert ihre Vertrautheit. So ist die Frage berechtigt: Wie kann ich positiv mit dem Alter umgehen?

 

Bewältigung des Alters

 

Von größter Wichtigkeit ist zunächst einmal die Grundeinstellung. Ich habe schon oft Leute im Altenheim besucht. Einmal wurde mir das besonders deutlich, wie unterschiedlich ältere Leute auf ihre Situation reagieren.

 

Zuerst kam ich zu einem Mann, der ganz gekrümmt im Bett lag, sich kaum rühren konnte, gefüttert werden musste wie ein kleines Kind, aber eine Freude und Dankbarkeit ausstrahlte, dass ich mich nur wundern konnte. Er betonte, er sei sehr glücklich, weil es ihm so gut gehe; die Schwestern würden ihn richtig verwöhnen. Also kein einziges Wort der Klage.

 

Im Nachbarzimmer sprach ich dann mit einer älteren Dame, die jeden Nachmittag ausging, keine größeren Beschwerden hatte, aber trotzdem unzufrieden war, ewig klagte und jammerte.

 

So verschieden reagieren oft die Menschen auf Unannehmlichkeiten, Altersbeschwerden oder Krankheit.

 

Für jeden gibt es die zwei Möglichkeiten: Er kann verbittert sein über die Beschwerden des Alters, immer nur jammern und klagen; er kann aber auch dankbar sein für alle Wohltaten, die er im Lauf seines langen Lebens schon erfahren hat, und sich freuen, dass es ihm besser geht als so vielen Gleichaltrigen.

 

Ich vergesse nie eine alte Ordensschwester, die von der Gicht ganz gekrümmt war, aber strahlende Augen hatte. Auf meine Frage, warum sie so viel Freude ausstrahle, antwortete sie mir: „Herr Pater, ich war 40 Jahre Krankenschwester und konnte so vielen Menschen helfen und Gutes tun. Ich habe nicht umsonst gelebt, das macht mich einfach glücklich, auch wenn ich jetzt nichts mehr tun kann.”

 

Es hängt also vieles schon von der Grundeinstellung ab. Selbstverständlich kann der Glaube als christliche Weltanschauung dabei eine wertvolle Hilfe sein.

 

Der Glaube sagt uns: vor Gott gibt es kein „unnützes Leben”. Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass Gott ein liebender Vater ist, auch wenn er Kreuz und Leid zulässt in unserem Leben. Sicher hat er auch Verständnis, wenn wir mal etwas klagen oder gar stöhnen unter Schmerzen.

 

Aber gehören nicht die Beschwerden des Alters, Leid und Krankheit und schließlich der Tod einfach zu unserem irdischen, menschlichen Leben?

 

Auch wenn Jesus in seinem irdischen Leben viele Kranke geheilt hat, um ihnen seine Liebe und Güte erfahren zu lassen, so hat er doch niemals versprochen, das Leid aus der Welt zu schaffen. Im Gegenteil hat er uns gelehrt, dass wir wie er unser Kreuz tragen sollen, wenn es der Wille des Vaters ist.

 

Dabei hat er uns allerdings zugesagt, dass er uns nie allein lassen wird.

 

Hans Küng hat es so formuliert: „Die Liebe Gottes bewahrt uns zwar nicht vor allem Leid, aber sie bewahrt uns in allem Leid.”

Für einen gläubigen Menschen ist wahrscheinlich der Blick auf Jesus und auf sein Kreuz die wertvollste Hilfe, mit dem Leid fertig zu werden. Auch Jesus hatte Angst vor dem Leiden; er betete, den Kelch nicht trinken zu müssen. Scheinbar hat der Vater ihn nicht erhört, doch er hat ihn gestärkt, so dass er mutig den Weg des Leidens gehen konnte. So hat Jesus das Leiden als den Willen des Vaters angenommen und zum Ausdruck seiner Liebe gemacht. Dadurch wurde es zur Quelle unseres Heiles, der Erlösung der ganzen Welt.

 

Seitdem wissen wir, dass Leiden auch einen tiefen Sinn haben kann. Unser Indienmissionar P. Franz Dirnberger, der sich infolge eines Unfalls nur mit Krücken mühsam fortbewegen konnte, traf einmal mit Mutter Teresa in Kalkutta zusammen. Als sie ihn heranhumpeln sah, sagte sie spontan: „Herr Pater, mit Ihren Krücken dienen Sie Ihrer Gemeinschaft und der Kirche mehr als durch alle spektakuläre Aktivität.” Er hat das nie mehr vergessen und viel Trost und Kraft daraus geschöpft, schrieb er mir später.

 

Sein Leiden annehmen aus Gottes Hand und es aufopfern für andere, das kann allerdings nur der Glaubende begreifen. Aber es wäre der Weg, seinem   Leiden, seinen Altersbeschwerden einen tiefen Sinn abzugewinnen und alles zu einer Quelle reichen Segens zu machen für sich und für viele andere.

 

Das Alter erträglicher machen und mit Sinn erfüllen

 

Wenn ich davon gesprochen habe, das Leid anzunehmen und zu ertragen, heißt das nicht, dass man nur stumpf und ergeben dem Alter entgegensehen oder im Alter sich mit „Leidensmine” zurückziehen soll.

 

Eine alte Frau schrieb in ihrem Brief sehr schön: „Sagen Sie den alten Menschen, wie sehr sie zum Salz der Erde werden können, wenn sie Gelassenheit und Freude ausstrahlen. Wie viel könnte durch Gebet und Beispiel erreicht werden, dass die Jugend wieder den rechten Wert der inneren Freude und Zufriedenheit erkennen lernt. Darin sehe ich die Aufgabe des Christen in alten Tagen: dass er nicht zum „Jammertal und Griesgram” für seine Umgebung wird, sondern sich die Fröhlichkeit bewahrt. Es sollte von alten Menschen eine Atmosphäre ausgehen, in der sich alle wohlfühlen. Freude ist es, was unsere Zeit braucht.”

 

Es gibt sicher viele kleine Möglichkeiten, etwas gegen die Einsamkeit zu tun und das Alter zu bewältigen:

 

Erstens: sich nicht resigniert zurückziehen. Es gibt vielleicht Menschen, die auf ein gutes Wort des Trostes warten. Ein Sprichwort sagt: „Bist du einsam, besuche einen, der noch einsamer ist als du!” Wir glauben gar nicht, wie oft wir einem anderen helfen können durch ein Gespräch, eine kleine Handreichung, eine Besorgung, oder wenigstens durch das bekundete Mitgefühl. Wir werden selber dadurch beschenkt werden.

 

Meine Mutter pflegte in ihren alten Tagen, als sie nicht mehr aus dem Haus konnte, an einem Abend in der Woche alle heranwachsenden Enkelkinder mit ihren Freunden und Freundinnen zum Kartenspielen einzuladen. Sie stiftete einen Kasten Bier und war glücklich, den jungen Menschen eine Freude bereiten zu können. Sie fühlte sich niemals überflüssig.

 

Zweitens: Sich Zeit nehmen für andere, auch Zeit zum Zuhören. Ich besuchte einmal eine behinderte Frau, die allein in einem Häuschen wohnte. Sie fühlte sich aber gar nicht einsam, denn jeden Tag kamen zwei Nachbarinnen zu ihr und verbrachten bei einer Tasse Kaffee und manchmal auch Kuchen den Nachmittag im Gespräch miteinander. Alle drei waren recht zufrieden mit ihrer Situation, sie empfanden ihr Leben nicht als sinnlos.

 

Drittens: Sich dankbar zeigen. Dies ist wie ein Geheimrezept, um Menschen zu gewinnen und etwas gegen die Einsamkeit zu tun. Mit dankbaren Menschen hat jeder gern zu tun, während Leute, die ständig jammern, eher abstoßend wirken, mag das Klagen noch so berechtigt sein.

 

Viertens: Nie den Humor verlieren. Humor ist jene versöhnende Kraft, die aus der Weisheit des Alters erblüht. Weisheit verleiht Abstand und lässt den Menschen über den Dingen stehen. Es gibt nichts Schöneres als einen alten Menschen, der diese Gabe des Humors besitzt.

 

Zum Schluss möchte ich noch einen ganz wichtigen Punkt ansprechen: das Gebet. Ein alter Herr von 95 Jahren antwortete auf die Frage nach seinem Befinden: „O, es geht mir gut, ich habe viel Zeit zum Beten. Das ist der Vorteil des Alters.”

 

Ein alter Volksspruch sagt darum: „Kannst du nicht regen mehr die Hände, kannst du sie falten ohne Ende!” Oder wie Papst Johannes XXIII. es ausdrückte: „Die Welt braucht nicht nur schaffende, die braucht auch betende Hände!”

 

Vielleicht ist es tatsächlich das Wertvollste, was man im Alter tun kann. Man hat Zeit, mehr als früher, als man noch mitten in der Arbeit stand.

 

Wunderschön hat es einmal ein kleines Mädchen ausgedrückt, als es von ihrer Großmutter erzählte: „Das Beten ist meiner Oma ihr Hobby!”

 

Ich kenne natürlich auch die Klage: „Ich möchte ja, aber ich kann gar nicht mehr richtig beten.” Darauf kann ich nur antworten: Das Alter hat seine eigene Form des Betens, sie ist nicht weniger wertvoll, sie ist nur anders.

 

Worauf es beim Beten ankommt, ist nicht, dass man seine Gedanken schön gesammelt hält und nicht zerstreut ist oder lange Gebete verrichtet. Gott will nicht schöne Gedanken und schaut auch nicht auf unsere Leistung, er will unser Herz.

 

Das wertvollste Gebet besteht darin, dass wir Ja sagen zu Gottes Willen und ihm ein Zeichen unserer Liebe und Hingabe schenken. Ich bin überzeugt, dass einem alten, gereiften Menschen dieses Ja eher gelingt als einem jungen Menschen, bei dem verständlicher Weise die eigenen Wünsche und Pläne im Vordergrund stehen. Ich bin fest davon überzeugt, dass das Gebet im Alter trotz aller Gebrechlichkeit überaus wertvoll sein kann.

 

Ich vergesse nie, wie mir einmal eine junge Frau im Krankenhaus erklärte, dass sie mit der Kirche nichts zu tun habe, sie habe auch keinen Glauben. Trotzdem bemerkte sie so nebenbei, dass ihre alte Mutter dagegen sehr viel bete. Im Verlauf der Krankheit kam jedoch die große Wende. Die junge Frau fand zu ihrem Glauben zurück und war überzeugt: „Das hat meine liebe, alte Mutter ganz sicher erbetet.”

Durch das Gebet wird Gott zum Freund und Partner des Lebens. Gerade diese Vertrautheit mit Gott wird zur unerschöpflichen Kraftquelle für alle Lasten und Beschwerden des Alters und schließlich auch zum schönsten Trost im Sterben. Denn wer Gott zum Freund hat, braucht wirklich keine Angst mehr zu haben, er darf sich ganz in seine Liebe fallen lassen. Er fällt nicht in die Dunkelheit und ins Nichts, sondern in die Hand des liebenden Vatergottes.

 

Wenn wir die richtige Grundeinstellung haben und im Glauben verwurzelt sind, dann brauchen wir das Alter nicht zu fürchten, sondern können es erst richtig werten und mit Gottes Hilfe auch meistern. Sehr schön hat der Papst seine Ansprache an die ältere Generation bei seinem Deutschlandbesuch zusammengefasst mit den Worten: „Glaubt an Eure Würde, nehmt an eure Bürde!”

 

Ein herzhaftes Ja aus der Sicht des Glaubens überwindet am leichtesten die Mutlosigkeit und das Gefühl der Einsamkeit und Traurigkeit, es macht die Beschwerden des Alters, selbst Schmerzen und Krankheit zu einer Quelle reichen Segens.

 

Je größer die Gottverbundenheit und je lebendiger der Glaube, umso sinnvoller erscheint auch das Alter und umso wertvoller wird diese Lebensphase vor Gott und den Menschen.

 

In einer besonders dunklen Stunde kann das kurze Gebet von Ernst Ginsberg, das in einer bitteren Leidensphase entstand, vielleicht eine Hilfe sein:

„Ich bitte dich um die große Kraft,
diesen kleinen Tag zu bestehen,
um auf dem großen Weg zu dir,
einen kleinen Schritt weiterzugehen.

 

P. Alois Noll CMF