Wo ist Gott im Leid?

 

Die furchtbare Tsunami-Katastrophe in Südasien steht inzwischen nicht mehr im Mittelpunkt der Nachrichten unserer Medien, doch für die Betroffenen sind die verheerenden Auswirkungen immer noch schmerzhaft gegenwärtig. Viele unserer Mitbrüder in Sri Lanka und Südindien haben Verwandte verloren und waren im Einsatz in den betroffenen Gegenden, aus denen viele Claretiner und ihre Angehörigen stammen. Sie haben überall selbstlos schnelle Hilfe geleistet, wo immer es möglich und nötig war.

 

P. Rex Constantine CMF, ein Mitbruder aus Sri Lanka, schrieb uns damals in einem kurzen Bericht: „Als ich an das Strandgebiet von Jaffna kam, musste ich 69 Tote beerdigen. Ich konnte die Gebete am Schluss kaum mehr sprechen, weil die Leute vor Schmerz so laut schrien: ‚Warum muss Jaffna wieder so viel leiden? Wir haben doch genug verloren und genug gelitten – Warum? Warum schon wieder? Warum? Warum?‘„

 

Diese Frage nach dem Warum ist so alt wie die Menschheit. Peter Lippert, ein eifriger Priester und erfahrener Seelsorger, schreibt in seinem Buch „Der Mensch Job redet mit Gott“: „Ich mag sie nicht, diese Alleserklärer: Und am wenigsten mag ich deine Erklärer, die dich rechtfertigen und herausreden bei allem, was du tust. Ich gestehe lieber, dass ich dich nicht verstehe, warum du so viel Schmerz, so brüllenden, wahnsinnigen und sinnlosen Schmerz erschaffen hast. Ich neige mich tief vor deiner Herrlichkeit. Aber ich wage jetzt nicht, meine Augen zu dir zu erheben.“

 

Auch ich möchte auf keinen Fall den Eindruck erwecken, als könnte ich auf die brennende Frage gequälter Menschen, warum Gott solche Leiden zulässt, eine Antwort geben oder billigen Trost spenden. Ich bin mir durchaus bewusst, dass solches Leid, wie es die Tragödie der Flutkatastrophe ausgelöst hat, kein Problem ist, das wir durch Nachdenken in den Griff bekommen können, es ist vielmehr ein abgrundtiefes Geheimnis.

 

Ein Pfarrer erzählte mir nach Weihnachten, dass am Tag nach dem Seebeben in Südasien ein Mann aus seiner Gemeinde seinen Kirchenaustritt erklärt hat mit der Begründung: „Mit Gott, der so etwas zulässt, will er nichts mehr zu tun haben.“

 

Im indischen Nagapattinam nahmen es Hindus ihrem Gott übel, dass er sie nicht vor der Flut gerettet hat. An manchen Orten warfen sie sogar sein Bild aus dem Tempel. So verständlich eine solche Reaktion auch sein mag, sie ist keineswegs eine vernünftige Lösung des Problems.

 

Auch heute noch werden wir in der Seelsorge immer wieder auf die Frage nach dem Warum des Leids angesprochen, viele erwarten halt eine Antwort, um besser mit dem Problem umgehen zu können. Doch wir können nun einmal das Leid nicht ver-stehen, doch ich bin der Meinung, wir können es mit Gottes Hilfe be-stehen. Darum wage ich zaghaft ein paar Gedanken niederzuschreiben, die vielleicht eine Hilfe sein können.

 

Keine Strafe für Sünden

 

Zunächst sollten wir uns davor hüten, bei Katastrophen an eine Strafe für Sünden zu denken. Ein Bild im Fernsehen war schockierend, als ein Muslim am Strand des Todes zum Himmel zeigte und ausrief: „Die Macht kommt von oben! Wenn Allah uns bestraft hat, dann sind wir sicher schuldig.“

 

Jesus wandte sich gegen eine solche Auffassung, die zu seiner Zeit sehr verbreitet war. Auch seine Jünger waren dieser Meinung, denn bei der Heilung des Blindgeborenen fragten sie, wer in diesem Fall gesündigt habe, er oder seine Eltern. Jesus aber betonte ausdrücklich: „Weder er noch seine Eltern haben gesündigt …“

 

Natürlich gibt es auch Leiden, das aus der Sünde der Menschen stammt und das wir Gott nicht anlasten dürfen. Denken wir nur an das Übermaß von Leiden, das doch letztlich von Menschen verursacht wird wie das Unheil, das Krieg, Vertreibung, Terrorismus, Entführung oder ähnliche Verbrechen anrichten.

 

Aber auch dann fragen wir wieder: Warum lässt Gott zu, dass Unschuldige darunter leiden müssen? Wie sehr wünschte ich mir auch manchmal ein direktes Eingreifen Gottes und möchte wie Petrus mit dem Schwert dazwischen fahren, wenn der Terror im Irak kein Ende nimmt, wenn harmlose Menschen überfallen und ausgeraubt oder kleine Kinder entführt oder missbraucht werden.

 

Gott hat den Menschen mit freiem Willen geschaffen, damit er fähig sei zur liebenden Antwort. Mit der Freiheit ist aber nicht nur die Fähigkeit zur Liebe gegeben, sondern auch die Möglichkeit, sich für das Böse zu entscheiden. Wenn wir von Gott erwarten, dass er Unschuldige von allem Bösen bewahre, dann müsste er auch verhindern, dass Menschen ihre Freiheit missbrauchen können. Doch eben das tut er nicht.

 

Auf der anderen Seite gibt es allerdings auch das entsetzliche Ausmaß menschlichen Elends, das in der Schöpfung selbst steckt wie bei den verschiedenen Naturkatastrophen, wie wir sie gerade im letzten Jahr erlebt haben.

 

Dies gilt aber ebenso für viele Krankheiten und Behinderungen körperlicher oder geistiger Art und allem Leid, bei denen keine menschliche Schuld vorliegt. Bei all dem erfährt der Mensch seine ganze Ohnmacht, seine Begrenztheit und Hilflosigkeit. Das alles entspricht nicht der Freiheit des Menschen, sondern der Konstruktion der Schöpfung selbst. Wiederum drängt sich die Frage auf: Warum hat Gott eine solche Welt erschaffen, in der so viel Leid möglich ist?

 

Antwort des Glaubens

 

Ich bin der festen Überzeugung, dass der christliche Glaube dem Leidgeprüften doch einen Schimmer der Hoffnung geben kann durch den Blick auf Jesus. Vergessen wir nicht, dass Jesus niemals Unrecht getan, sondern Wohltaten spendend durch das Land gezogen ist und vielen Menschen in ihren Krankheiten und Nöten geholfen hat. Trotzdem ließ Gott es zu, dass er Furchtbares erleiden und – scheinbar ohne jeden Trost – am Kreuz sterben musste. Auch Jesus wehrt sich zunächst mit aller Kraft gegen das Leiden. Er bittet im Ölgarten den Vater, dass der Kelch des Leidens vorübergehe, wenn es möglich sei. Der Vater geht auf seine Bitte nicht ein, aber er stärkt ihn für den Leidensweg.

 

Jesus gab sein Vertrauen nicht auf und hörte nicht auf zu lieben. Sterbend betete er noch für seine Henker: „Vater, vergib ihnen, sie wissen ja nicht, was sie tun.“ Obwohl er in seiner Qual keine Antwort erhielt, als er stöhnend das Psalmwort sprach: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“, legte er doch sein Leiden und Sterben in die Hände seines himmlischen Vaters. Sein letztes Wort am Kreuz war: „Vater, in deine Hände lege ich meinen Geist!“ Heute wissen wir, dass er gerade durch sein Leiden und seinen Tod am Kreuz für uns alle zur Ursache unserer Erlösung und unseres Heiles geworden ist. Seitdem schenkt uns der Blick auf das Kreuz Hoffnung in allem Leid. Wir erkennen nicht schon von Anfang an den tieferen Sinn, der hinter allem steht.

 

Aber Gott weiß in seiner Allmacht und Güte alles zum Besten zu lenken. Dieses Vertrauen auf Gottes Führung ist ein wesentliches Element unseres Glaubens.

 

Der Blick auf das Kreuz schenkt die Kraft, mit dem Leid leichter fertig zu werden. Christus hat das Kreuz nicht gewollt, aber er hat es zum radikalsten Ausdruck seiner Liebe gemacht. In der Kraft der Liebe hat er das Leid überwunden. Wenn uns Jesus einlädt, als seine Jünger und Jüngerinnen ihm auf dem Weg des Kreuzes zu folgen, dann heißt das nichts anderes, als dass auch wir versuchen sollen, wie er den Weg der Liebe zu gehen, unser „Ja, Vater“ zu sagen, wenn Gott es so will oder zulässt. Mit der Liebe wächst auch die Fähigkeit, das Leid zu verkraften und es manchmal sogar zu einer Quelle des Segens zu machen. Dies gilt sowohl für das Leid aus Naturkatastrophen wie für jede persönliche Leiderfahrung.

 

An dieser Stelle möchte ich an den Begründer unserer indischen Missionen erinnern, unseren P. Dirnberger. Er berichtete von seiner ersten Begegnung mit Mutter Teresa in Kalkutta. Infolge eines Unfalls war er stark gehbehindert und konnte sich nur mit Krücken fortbewegen. Als ihn Mutter Teresa heranhumpeln sah, begrüßte sie ihn mit den Worten: „Herr Pater, mit ihren Krücken dienen Sie Ihrer Gemeinschaft und der Kirche mehr als durch alle spektakuläre Aktivität!“ Später schrieb er in einem Brief, dass er diese Worte nie mehr vergessen habe und alle seine Schmerzen jetzt gerne aufopfere für seine junge Gemeinschaft in Indien (die sich sehr segensreich entwickelt hat und aus der inzwischen drei blühende Provinzen geworden sind).

 

Leid als Quelle des Segens, dafür hat die Welt kein Verständnis. Doch seit dem Kreuzestod Jesu für uns müssen wir wissen, dass Gott darüber anders denkt. Nur der Glaubende kann selbst im Leiden noch einen Sinn wenigstens erahnen und im Vertrauen auf Gottes Führung leichter mit der bitteren Erfahrung des Leids fertig werden.

 

Wo ist also Gott im Leid?

 

Zum Glauben gehört es, dass es Fragen gibt, auf die wir jetzt noch keine befriedigende Antwort erhalten. Zum Glauben gehört es aber auch, dass wir darauf vertrauen dürfen, dass Gott die Antwort weiß und dass er sie uns nicht schuldig bleiben wird. Das gibt uns die Kraft, auch mit offenen Fragen leben zu können.

 

Je tiefer und lebendiger unser Glaube ist, umso leichter werden wir das Leid zwar nie ganz ver-stehen, aber doch mit Gottes Hilfe be-stehen können. Unser Glaube muss durch eine so furchtbare Katastrophe nicht geschwächt oder in Frage gestellt werden, er kann durch den Blick auf Jesus sogar eine Läuterung und Vertiefung erfahren.

 

P. Alois Noll CMF