Claretiner-Missionare: "Die Liebe Christi drängt uns."
Claretiner-Missionare: "Die Liebe Christi drängt uns."

Es geht auch menschlicher: Herzlichkeit im Alltag

 

In meinem Bücherregal steht ein kleines Büchlein, das mich während meiner ganzen Militärzeit begleitet hat: „Die Nachfolge Christi“ von Thomas von Kempen aus dem Ende des 14. Jahrhunderts. Es handelt sich um eine Anleitung zum geistlichen Leben, zur Übung der klassischen Tugenden. Es hat mir sehr geholfen, die harte Zeit der Kriegsgefangenschaft im Frühjahr 1945 in einem der berüchtigten „Rheinwiesenlager“ ohne seelischen Schaden zu überstehen.

 

Dieses Büchlein lehrte mich

   die Geduld, wenn wir manchmal tagelang auf einen Becher Wasser und Verpflegung warten mussten;

   die Opferbereitschaft, da wir auch während einer Regenperiode die ganze Zeit in nassen Kleidern auf dem bloßen Erdboden ohne schützende Decke und ohne Dach über dem Kopf im Freien verbringen mussten;

   die Armut, weil man uns restlos alles abgenommen hatte (in meinem Fall mit Ausnahme des Rosenkranzes);

   die Nächstenliebe, denn man war total auf eine gute Kameradschaft in der Gruppe angewiesen;

   die Ergebung in Gottes Willen, da einem Gefangenen beim Gebrauch des eigenen Willens enge Grenzen gesetzt waren.

 

Nach meiner Entlassung betrachtete ich die dreimonatige Gefangenschaft als die fruchtbarsten Exerzitien meines Lebens.

 

Nach dem Krieg mit den vielen Unmenschlichkeiten, als ein normales, zivilisiertes Leben wieder möglich war, sehnte man sich nach einem friedlicheren Leben. Darum gewannen die menschlichen Qualitäten für das Zusammenleben in der Gesellschaft mehr und mehr an Bedeutung. Das ist mir damals erst so richtig bewusst geworden, als ich einmal in einem Bergdorf in der Schweiz eine Bettelpredigt hielt und der Pfarrer, der uns Claretiner kannte, seiner Gemeinde die Kollekte humorvoll empfahl mit den Worten: „Dem Pater können sie gern etwas geben, denn der ist so menschlich.“

 

Auch beim Zweiten Vatikanischen Konzil wurde im Dekret über die Priesterausbildung betont, die Erzieher der jungen Priesterkandidaten sollten nicht nur über die übernatürlichen Tugenden reden, sondern auch Wert legen auf die menschlichen Voraussetzungen. Diese Haltungen nannte man bald „moderne Tugenden“. Man hatte erkannt, dass man beim Aufbau des religiösen Lebens nicht schon mit dem ersten Stock beginnen dürfe, sondern zuerst ein gutes und solides Fundament legen müsse nach dem Prinzip: „Die Gnade baut auf die Natur auf; sie heiligt sie, aber sie ersetzt sie nicht.“

 

Zu diesen „modernen Tugenden“ oder menschlichen Grundhaltungen gehört auf jeden Fall die Freundlichkeit. Ein kleines Mädchen soll einmal gebetet haben: „Lieber Gott, mach doch, dass alle bösen Menschen fromm werden, die Frommen aber nett.“ Nett bedeutet so viel wie freundlich, liebenswürdig, herzlich im Umgang miteinander.

In der Großstadt lebende Menschen schätzen es als einen Vorzug, dass man den Mitmenschen gegenüber Distanz hält, damit sich nicht jeder in die allerpersönlichsten Angelegenheiten einmischen und aus Neugier und Sensationslust unberufen Einblick in die Privatsphäre nehmen kann. So lobenswert eine gewisse Distanzhaltung sein mag, so darf sie doch nicht das Verhältnis der Menschen unterkühlen.

 

Schon Thomas von Aquin sagte mit Recht: „Wie eine Gemeinschaft nicht Bestand haben kann ohne Gerechtigkeit und Wahrhaftigkeit, so kann der Mensch nicht menschlich in der Gesellschaft leben ohne Freude.“ Und an einer anderen Stelle: „Das taktvolle und freundliche Zusammenleben ist etwas, was wir dem Nächsten schuldig sind, denn der Mensch ist ein Gemeinschaftswesen. Er muss in all seinem Tun und Lassen auf die Gemeinschaft Rücksicht nehmen. Nun aber kann keiner in einer Gemeinschaft ohne Freude leben, denn wir sind für die Freude geschaffen.“ Kalte Sachlichkeit ist ein Irrweg, sowohl im allgemeinen Gesellschaftsleben wie im privaten Umgang miteinander.

 

Manchmal können wir von den „Kindern dieser Welt“ lernen. Im Geschäftsleben wird der Chef der jungen Verkäuferin nichts so einhämmern wie die Mahnung: „Bitte vergessen Sie nie das Lächeln, seien Sie immer freundlich. Wenn die Leute Ihnen lästig fallen, lächeln Sie trotzdem. Wenn sie fortgehen, ohne etwas gekauft zu haben, bleiben Sie freundlich, lächeln Sie ihnen immer noch nach!“ Das Lächeln und die Freundlichkeit erobern die Menschen. Man kauft doch gern in einem Geschäft ein, wo man freundlich bedient wird. Freilich weiß ein Geschäftsmann, dass es dabei auch ums Geld geht.

 

Man könnte den Einwand vorbringen, es handle sich bei der Freundlichkeit nur um ein äußeres Verhalten. Freilich drückt sich die Freundlichkeit in äußeren Zeichen und Umgangsformen aus. Doch schon Goethe sagt: „Es gibt kein äußeres Zeichen der Freundlichkeit, das nicht einen tieferen sittlichen Grund hätte.“ Der tiefere Grund ist für uns das christliche Menschenbild, wie es der Glaube lehrt.

 

Um besonders diese innere Haltung zu betonen, hat man den Begriff „Herzlichkeit“ geprägt. Dieses Wort hat nämlich eine doppelte Bedeutung. Herzlich heißt sowohl freundlich, liebenswürdig, gutherzig, wohlwollend, aber auch zugleich aufrichtig, echt und ehrlich. Darum muss unsere Freundlichkeit immer von Herzen kommen. Auch Gott schaut nicht allein auf das äußere Verhalten, sondern auf die Gesinnung des Herzens.

 

Wie wohltuend eine solche Herzlichkeit sich im Alltag auswirkt, hat jeder schon erfahren. Als ich nach Frankfurt versetzt wurde, sagte man mir, beim Tanken müsse man dem Tankwart nur sagen, dass man zu den Claretinern gehöre, dann würde er die Kosten aufschreiben und am Ende des Monats abrechnen. Als ich das erste Mal tankte, fragte ich den Tankwart, woran er denn erkenne, ob einer wirklich Claretiner sei. Seine Antwort war sinngemäß: „Die Claretiner erkenne ich immer an ihrer Freundlichkeit, die echt ist.“

 

In der Schweiz war ich mit einem älteren Pfarrer befreundet, der bekannt war durch seine wohlwollende Gesinnung allen Menschen gegenüber und seine herzliche Gastfreundschaft. Sein Pfarrhaus nannte er bezeichnenderweise: „Gasthaus zum schwarzen Frack“. Dabei gestand er mir einmal, als er Priester wurde, habe er eigentlich keine hohen Ideale angestrebt, sondern nur einen Vorsatz gefasst: „Ich will den Menschen Freude bereiten.“ Und dies hat er getan bis zur letzten Konsequenz und wurde gerade deshalb ein überall beliebter Seelsorger.

 

Freilich gibt es auch Voraussetzungen für eine solche Haltung der Herzlichkeit, die sich im alltäglichen Leben bewährt. Dazu gehört zunächst die Vorurteilslosigkeit. Wir können jemandem nur herzlich begegnen, wenn wir ihm unvoreingenommen und vorurteilslos gegenübertreten und ihn als Menschen hochschätzen. Wir neigen dazu, bei anderen vor allem auf die Fehler zu schauen. Freilich, wo Licht ist, da ist auch Schatten. Doch besser wäre zu denken: Wo Schatten ist, da ist auch Licht. Denn in jedem Menschen steckt ein guter Kern.

 

Ich erinnere mich an die Worte unseres Professors der Psychologie: „Meine Herren, wenn Sie das Menschenherz richtig verstehen wollen, vergessen Sie nie in Ihrem Leben: Der Mensch ist von Natur aus nicht böse, er ist nur schwach.“ Dieses Wort hat auf uns einen tiefen Eindruck gemacht, ich habe es nie mehr vergessen. – Peter Lippert sagt dazu: „Es gibt solche, die an den Menschen nur Bosheit sehen. Wenn wir aber mit feinfühligem Herzen tiefer schauten, würden wir erkennen, dass nicht viel Bosheit in den Menschen ist, aber viel Unwissenheit, Kurzsichtigkeit, Gedankenlosigkeit.“

 

Eine weitere Voraussetzung, um herzlich mit den Mitmenschen umzugehen, ist die Ehrfurcht in ihren vier Erscheinungsformen:

   Anstand, der sich in den äußeren Verhaltensformen ausdrückt;

   Feingefühl, das auch die kleinen Freuden und Schmerzen des anderen entdeckt;

   Zuvorkommenheit, die spontan den anderen Wohlwollen und Hilfe entgegenbringt, ohne erst gebeten zu werden;

   Aufmerksamkeit, die unerwartete Zeichen der Hochachtung und Ehrfurcht zu bereiten weiß.

 

Eine wertvolle Hilfe für herzliches Verhalten im Alltag, wenn auch nicht gerade Voraussetzung, ist ebenfalls die Mitfreude. Wir sind gewohnt, das Mitleid als eine Tugend anzusehen, während die Mitfreude im bisherigen Tugendkatalog keine Erwähnung findet. Doch gerade sie entfernt die Schlacken selbstsüchtigen Neides und ist eine echte, frohmachende menschliche Haltung.

 

Als wir das Noviziat in einem Schwesternheim in Südtirol beginnen durften, haben wir dort eine Schwester erlebt, die sehr unter Asthma litt, sich aber sichtlich mit uns freute, wenn wir von einer schönen Bergwanderung in den Dolomiten erzählten. Das hat damals gerade unsere jungen Novizen sehr tief beeindruckt. Man konnte spüren, dass diese Freude wirklich aus einem edlen, mitfühlenden Herzen kam. Mit dieser Schwester sind wir heute noch befreundet.

 

Wer einen Schritt weiter gehen will, dem kann ich nur raten, nicht nur die Freude von Mitmenschen zu teilen, sondern sich auch bewusst darum zu bemühen, anderen ab und zu eine kleine Freude zu bereiten. Das ist wohl die beste Methode, den Egoismus zurückzudämmen und beizutragen zu einem angenehmen und frohen Zusammenleben.

 

Ich bin mir bewusst, dass die genannten menschlichen Haltungen wie die Herzlichkeit zwar nicht zu den hohen klassischen Tugenden gehören, aber sie sind doch eine wichtige Vorstufe der Nächstenliebe, die zusammen mit der Gottesliebe als das oberste Gebot für jeden Christen Geltung hat.

 

Je unmenschlicher die moderne Arbeitswelt und je unpersönlicher das Klima in unserer Welt von Computern und Maschinen heute wird, umso mehr sehnen sich die Menschen nach echter Mitmenschlichkeit.

 

Wir Christen sind berufen, unseren Glauben als Frohbotschaft vor der Welt zu bezeugen. Das ist aber nur möglich, wenn wir nicht nur „fromm“, sondern auch „nett“ sind, indem wir auch im grauen Alltag immer wieder Freude und Wärme ausstrahlen und beitragen zu einer besseren Atmosphäre im Umgang miteinander – vor allem durch unsere Herzlichkeit.

 

P. Alois Noll CMF

 

Druckversion | Sitemap
© 2015 Claretiner-Missionare